Berlin, 12. August 2020

Verantwortung liegt auch bei FrauenärztInnen: Häusliche Gewalt darf nicht unerkannt bleiben

„Liebe auf den ersten Blick. Blutergüsse auf den zweiten.“ In vielen deutschen Städten sieht man derzeit diesen Slogan auf den Plakaten der #sicherheim-Kampagne gegen häusliche Gewalt. Auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG) hat sich diesem wichtigen Thema angenommen und eine überarbeitete Stellungnahme zum Thema „Gewalt gegen Frauen“ herausgebracht. 

„Häusliche Gewalt an Frauen ist für die KollegInnen in unserem Berufsstand zu jeder Zeit ein brisantes Thema und darf nicht unerkannt bleiben“, erklärt DGGG-Präsident Prof. Dr. Anton J. Scharl und ergänzt: „Verstärkt durch die Corona-Pandemie und die damit einhergehend gestiegenen Fallzahlen ist es heute umso wichtiger, dass GynäkologInnen in Niederlassung und Klinik im professionellen Umgang mit gewalterfahrenen Patientinnen vertraut sind. Nur, wenn die richtigen Maßnahmen ergriffen werden, kann einer Chronifizierung von häuslicher Gewalt vorgebeugt und langfristig Entlastung geschaffen werden.“

Schwangerschaft oftmals Ursache für Gewalt
Viele Frauen erleben Gewalt, manche wiederholt. Körperliche Misshandlungen, Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen können zu psychischen Traumatisierungen, körperlichen Verletzungen, Komplikationen in der Schwangerschaft, chronischen Erkrankungen und mitunter sogar zum Tod führen. Die Wahrscheinlichkeit, im ärztlichen Alltag gewaltbetroffenen Frauen zu begegnen, ist hoch. 38-66 % der gynäkologischen Patientinnen einer skandinavischen Studie hatten körperliche Gewalt erlebt, 17-33% sexuelle Gewalt.(1) In der Gynäkologie und Geburtshilfe treten die Gewaltfolgen nicht nur als chronische körperliche und psychische Beschwerden zutage. Eine nicht unerhebliche Zahl von Frauen ist außerdem aktuell in COVID19-Zeiten, aufgrund erhöhter Zeit in den eigenen vier Wänden, von häuslicher Gewalt betroffen und benötigt Unterstützung, um sich und gegebenenfalls auch ihre Kinder der Bedrohung zu entziehen. Da gewaltbetroffene Frauen sehr viel häufiger unter gynäkologischen Beschwerden leiden als andere Frauen und die Gewalt oftmals in der Schwangerschaft oder in den Monaten nach einer Geburt ihren Anfang nimmt, ist das Thema für die FachkollegInnen der Gynäkologie und Geburtshilfe sehr relevant. Gerade niedergelassene FrauenärztInnen sind oft die erste niedrigschwellige Anlaufstelle für Frauen, die von Gewalt betroffen sind, und könnten so eine wichtige „Scharnierfunktion“ für deren weitere Versorgung darstellen.

Handlungsempfehlung für das konkrete Vorgehen in der (frauen-)ärztlichen Praxis
Die neu erschienene Stellungnahme „Gewalt gegen Frauen“ ist eine Aktualisierung der DGGG-Stellungnahme von 2010. Sie wurde gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe e. V. (DGPFG) erstellt und ist als Handlungsempfehlung für das konkrete Vorgehen in der (frauen-)ärztlichen Praxis gedacht. Darüber hinaus sollte das Thema „Gewalt“ regelmäßig in der medizinischen Ausbildung behandelt, als Fortbildungsmodul in die 80-Stunden-Blöcke zur psychosomatischen Grundversorgung fest verankert und in praxisrelevanten Fortbildungsveranstaltungen angeboten werden. 
Orientiert an internationalen Standards (WHO 2014) und den Konzepten des Modellprojekts MIGG (Medizinische Intervention gegen Gewalt an Frauen) umfassen die Interventionsstandards vier zentrale Aufgaben für niedergelassene ÄrztInnen:

  1. Gewalterfahrungen und Folgen von Gewalt erkennen, ansprechen und bei der Untersuchung berücksichtigen
  2. Gesundheitliche Folgen von Gewalt (ggf. gerichtsverwertbar) dokumentieren
  3. Hilfen zum Schutz und zur Beendigung von Gewalt vermitteln (durch regionale Vernetzung wie Hilfeeinrichtungen, Polizei, Justiz)
  4. Sicherheit für Patientinnen und Praxisteam in der Praxis gewährleisten

Die Stellungnahme erörtert jeden dieser Punkte explizit und erklärt die möglichen Handlungsschritte. 

Erst-Diagnostik und -Betreuung soll nur in speziellen Einrichtungen oder nach entsprechender Fortbildung erfolgen
Die ärztliche Erstversorgung von Frauen nach einer akuten Vergewaltigung inkl. Spurensicherung und die dazugehörigen rechtlichen Aspekte werden in dieser Stellungnahme ausdrücklich nicht ausführlich diskutiert: Die entsprechende umfangreiche Erst-Diagnostik und -Betreuung sollte in speziellen Einrichtungen (z. B. Institute für Rechtsmedizin oder Kinderschutzambulanzen) erfolgen. Das gilt besonders für Kinder und Jugendliche. Wenn sich eine Frau nach Vergewaltigung in einer gynäkologischen Praxis vorstellt, sollte sie entsprechend beraten und gezielt weitergeleitet werden. 

„Gleichwohl haben viele niedergelassene FrauenärztInnen und Klinik-Ambulanzen ein Befundungs-Kit in der Praxis und können diese Befundungen – nach entsprechender Fortbildung – selbst durchführen“, berichtet Dr. Christian Albring, Präsident vom Berufsverband der Frauenärzte e. V. (BVF) Die gerichtsfeste Dokumentation ist jedoch ein einstündiger Aufwand, der zurzeit nur dann honoriert wird, wenn die Frau gleichzeitig Anzeige erstattet. Tut sie das nicht, dann kann die Untersuchung nicht als GKV-Leistung abgerechnet werden. 

Jede gynäkologische Praxis sollte wissen, welche Krankenhaus-Ambulanz oder sonstige Einrichtung zuständig ist, inkl. Telefonnummer. Wie diese Informationen zu erhalten sind, ist regional unterschiedlich – z. B. über die Polizei, Runder Tisch gegen Gewalt oder www.frauen-gegen-gewalt.de. Schließlich ist es essenziell, der Patientin die Sicherheit zu geben, dass es Menschen und Institutionen gibt, die ihr helfen können und auch werden. Dabei ist immer auch an die Unterstützung und Sicherheit betroffener Kinder zu denken.

Prof. Dr. med. Anton Scharl
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V.

Dr. med. Christian Albring
Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte e.V.

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Sara Schönborn | Heiko Hohenhaus | Katja Mader
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