Kritik an Empfehlungen zur Finanzierung der Geburtshilfe bekräftigt

In einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, der vom Deutschen Hebammenverband und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe initiiert wurde und von sieben weiteren Fachverbänden mitgezeichnet ist, wird die Kritik an den Empfehlungen der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung zur künftigen Finanzierung der Geburtshilfe bekräftigt.

Schild Bundesministerium für GesundheitTobias Arhelger - stock.adobe.com
Der offene Brief der geburtshilflichen Fachverbände mit der Kritik an den Empfehlungen zur Finanzierung der Geburtshilfe ging an das Bundesministerium für Gesundheit.

Berlin, im August 2022 – In dem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und die Regierungskommission heißt es:
Die mitzeichnenden Fachgesellschaften und Verbände begrüßen sehr, dass die Bundesregierung dem notwendigen Reformbedarf der stationären Krankenhausfinanzierung entschlossen begegnen möchte und dafür die im Koalitionsvertrag vereinbarte Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausfinanzierung zügig einberufen hat. Die Arbeitsgruppe Pädiatrie und Geburtshilfe der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausfinanzierung hat am 08.07.2022 erste Empfehlungen für eine kurzfristige Reform der stationären Vergütung für Pädiatrie, Kinderchirurgie und Geburtshilfe veröffentlicht.

Als Vertretung der ärztlichen GeburtshelferInnen und der Hebammen nehmen wir nachfolgend zu den Empfehlungen zur geburtshilflichen Versorgung Stellung, da wir die vorgeschlagenen Maßnahmen mit großer Sorge betrachten. Weder werden die qualitativen Ziele des Koalitionsvertrages berücksichtigt noch wird das Problem der Sicherstellung der flächendeckenden geburtshilflichen Versorgung gelöst oder ein Konzept zur nachhaltigen Finanzierung des notwendigen Fachpersonals vorgelegt. Im Gegenteil: Bestehende Fehlanreize in der Krankenhausfinanzierung werden verfestigt.

1. Wegfall der qualitativen Verbesserung der klinischen Geburtshilfe

Zuerst ist festzustellen, dass die für die Verbesserung der Geburtshilfe im Koalitionsvertrag vereinbarten essentiellen Ziele von der Regierungskommission nicht berücksichtigt werden. Das Nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ soll laut Koalitionsvertrag mit einem Aktionsplan zügig umgesetzt werden. Ebenso sollen mögliche Fehlanreize rund um Spontangeburten und Kaiserschnitte evaluiert und ein Personalschlüssel für eine Eins-zu-eins-Betreuung durch Hebammen während der wesentlichen Phasen der Geburt eingeführt werden.

Zunächst stellt die Regierungskommission zwar richtigerweise fest, dass der in der Geburtshilfe existierende Personalmangel zu temporären Kreißsaalschließungen führt, die sowohl die Versorgung der Bevölkerung als auch die Krankenhausfinanzierung belasten. Das medizinisch sinnvolle Bestreben, Kaiserschnitte zu verhindern und Spontangeburten zu fördern, sei weniger planbar, personalintensiv und darüber hinaus schlechter vergütet, womit ein Fehlanreiz der aktuellen Krankenhausfinanzierung kurz und prägnant dargestellt wurde.

Die erarbeiteten Empfehlungen für die Geburtshilfe sind jedoch nicht dazu geeignet, diese Probleme zu beheben. Sie wirken den im Koalitionsvertrag verankerten Zielen sogar entgegen, wenn kleinere Klinikstandorte geschlossen werden und gleichzeitig große geburtshilfliche Kliniken nicht von einer gesonderten Finanzierung der Vorhaltekosten profitieren können. Zu diesen Bedingungen können weder das Nationale Gesundheitsziel umgesetzt, eine Eins-zu-Eins-Betreuung eingeführt oder mehr hebammengeleitete Kreißsäle etabliert werden.

2. Fehlanreize bei der Einführung und Verteilung von Vorhaltekosten

Die Regierungskommission empfiehlt grundsätzlich, geburtshilflichen Abteilungen, an deren Standort sich auch eine Pädiatrie befindet, eine erhöhte leistungsunabhängige Vergütung zu gewähren. Abteilungen mit weniger als 500 Geburten pro Jahr (entscheidend ist dabei das Vorjahr) sollen ebenfalls eine erhöhte Vergütung erhalten, sofern sie als bedarfsnotwendig eingestuft sind. Für Abteilungen mit 500 bis 1.499 Geburten pro Jahr (Vorjahr) würde sich laut Kommissionsvorschlag die zusätzliche leistungsabhängige Vergütung mit steigender Geburtenzahl (z.B. pro 100 weiterer Entbindungen) reduzieren. Abteilungen mit 1.500 und mehr Geburten pro Jahr (Vorjahr) erhielten keine zusätzlichen leistungsabhängigen Mittel (unabhängig von der Gewährung des Sicherstellungszuschlags), da sich diese über die leistungsbezogene Vergütung finanzieren könnten.

Nicht benannt wird jedoch, in welcher Höhe oder nach welchen strukturellen Voraussetzungen eine solche leistungsunabhängige Vergütung jeweils ausfallen sollte, was ein entscheidender Faktor wäre. Zudem wird nicht berücksichtigt, dass gerade für Perinatalzentren hohe personelle und strukturelle Vorhaltekosten für eine Situation bestehen (Frühgeburtlichkeit),die zum Wohle der Patienten seitens der Geburtshilfe und der Perinatalzentren vermieden werden muss.

Die gesamte Fragestellung, wie dem Fachkräftemangel in der klinischen Geburtshilfe sinnvoll begegnet werden kann, wird in den Empfehlungen ausgespart.

Die Kommission argumentiert weiterhin, dass vor allem eine Mindestanzahl an Geburten die Qualität der geburtshilflichen Abteilung sichert, ohne weitere Faktoren zu berücksichtigen. Eine rein quantitative Betrachtung der Qualität der Geburtshilfe ist ungenügend und kann zu eigenen Fehlanreizen führen. Richtig wäre, dass Faktoren wie z.B. die Vernetzung mit Geburtskliniken einer höheren Versorgungsstufe und die Vorhaltung personeller und struktureller Ressourcen individuell einbezogen werden müssen. Das ist besonders wichtig für Überlegungen, wie gerade in bevölkerungsschwachen Regionen die Vorhaltung der klinischen Geburtshilfe erfolgen kann und priorisiert werden muss.

3. Neue Prioritäten zu Lasten der Versorgungssicherheit

Es ist falsch, eine optimale und flächendeckende geburtshilfliche Versorgung weiter über die Verteilung finanzieller Mittel erreichen zu wollen. Um das Ziel zu erreichen, eine qualitativ hochwertige, flächendeckende geburtshilfliche Grundversorgung sicherzustellen, ist Planung erforderlich. Hier fehlt bei der Besetzung der Kommission eindeutig Expertise aus den Berufsgruppen der Hebammen und ärztlichen GeburtshelferIinnen.

Vor diesem Hintergrund ist es überaus besorgniserregend, dass die Kommission, in die keine Vertretung mit geburtshilflicher Expertise berufen wurde, Qualitätsvorgaben für die Geburtshilfe entwickeln und “Vorschläge für die zweite und weitere Reformstufen machen (will) mit dem Ziel, beide Fächer nach der Bedarfsnotwendigkeit (Bevölkerungsbezug) und einer hochwertigen Struktur-, Behandlungs- und Ergebnisqualität weiterzuentwickeln.”

4. Keine Vorschläge für Personalschlüssel und Vorhaltekosten

Die Empfehlungen der Kommission enthalten keine Vorschläge, wie zukünftig der Einsatz von genügend Fachkräften in der Geburtshilfe von den Kliniken finanziert werden kann. Dies ist aber eine unumgängliche Voraussetzung zur Erreichung der Sicherstellung einer Eins-zu-eins-Betreuung in der aktiven Phase der Geburt sowie den weiteren Zielen des Nationalen Gesundheitsziels, wie im Koalitionsvertrag vereinbart.

Die Reduzierung der leistungsunabhängigen Vergütung für geburtshilfliche Abteilungen mit steigender Geburtenzahl bis hin zum Wegfall dieser Vergütung ab 1.500 Geburten im Jahr wirkt an der Problematik, dass Personal nicht ausreichend eingesetzt wird, vorbei und zementiert die existierenden Fehlanreize des DRG-Systems weiter. Vorhaltekosten fallen auch in großen Geburtshilfen, insbesondere in solchen der obersten Versorgungsstufe (Level 1 Perinatalzentrum) an und müssen entsprechend finanziert werden. Gleichzeitig ist es irritierend, dass die Kommission keine Empfehlungen zur Höhe oder Berechnungsgrundlage sinnvoller leistungsunabhängiger Vergütungsanteile aufgestellt hat.

5. Keine ausreichende Sicherstellung einer flächendeckenden Grundversorgung mit klinischer Geburtshilfe

Insgesamt ist festzuhalten, dass den Empfehlungen zur auskömmlichen und bedarfsgerechten Finanzierung der klinischen Geburtshilfe eine Orientierung am Bedarf der Bevölkerung sowie der Frauen und Kinder fehlt und somit weit hinter den Zielen der Koalition zurückfällt.

Die mitzeichnenden Fachgesellschaften und Verbände kritisieren scharf, dass das Ziel der Eins-zu-eins-Betreuung während wesentlicher Phasen der Geburt durch eine Hebamme in der Empfehlung der Regierungskommission durchgängig ignoriert wird und insgesamt keine ausreichende und fachlich kompetente Personalressource aller Berufsgruppen "Rund um die Geburt" dargestellt wird. Die Umsetzung des Nationalen Gesundheitsziels „Gesundheit rund um die Geburt“ fehlt ebenso.

Die Empfehlungen der Regierungskommission lösen weder die bekannten Probleme der klinischen Geburtshilfe, noch werden sie den Zielen des Koalitionsvertrags gerecht. Deswegen fordern wir, die Empfehlungen zügig zu überarbeiten und die Berufsgruppen der Hebammen und ärztlichen GeburtshelferInnen in die weitere Erarbeitung von neuen Empfehlungen einzubeziehen. Der Deutsche Hebammenverband und die ärztlichen geburtshilflichen Fachverbände bieten dafür erneut ihre Expertise an.

Für die mitzeichnenden Fachgesellschaften:
Ulrike Geppert-Orthofer, Präsidentin Deutscher Hebammenverband e. V.
Prof. Dr. Anton Scharl, Präsident Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V.
Prof. Dr. rer. nat. Franziska Rosenlöcher, Präsidentin Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaften e. V.
Prof. Dr. med. Wolf Lütje, Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe e. V.
Prof. Dr. Kurt Hecher , Vorsitzender Arbeitsgemeinschaft für Geburtshilfe und Pränatalmedizin in der DGGG e. V.
Prof. Dr. Babür Aydeniz, Vorsitzender Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Ärztinnen und Ärzte in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe e. V.
Prof. Dr. Ekkehard Schleußner, Präsident Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin e. V.
Priv.-Doz. Dr. med. Dietmar Schlembach, Präsident Deutsche Gesellschaft für Pränatal- und Geburtsmedizin e. V.
Dr. med. Christiane Groß, M.A., Präsidentin Deutscher Ärztinnenbund e. V.

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