Galerie "Objekt im Fokus"
Eine Ansichtskarte erinnert
„Das Jahr 1923 war in Deutschland von einer galoppierenden Inflation,
der Ruhrbesetzung, politischer Polarisierung sowie Umsturzplänen
von links und rechts gekennzeichnet.“ Volker Ulrich, 2023
Dennoch fand zu Pfingsten 1923 in Heidelberg unter Vorsitz des damaligen Präsidenten Carl Menge (1864-1945) der 18. Kongress der seinerzeitigen Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie (DGG) statt, an den mit der nebenstehenden Ansichtskarte erinnert werden soll. Tagungsort war das 1903/04 zu einem Hörsaal- und Institutsgebäude der Universität ("Neues Kollegienhaus") ausgebaute ehemalige "Gesellschafts-Haus gebildeter Stände", das über einen der größten Säle der Stadt mit 800 Plätzen verfügte (Abb. 1). Bis zu seinem Abriss 1929 wurden dort viele Vorträge und Veranstaltungen abgehalten. Weichen musste es dem 1931 mit Spenden von US-Bürgern finanzierten Gebäude der Neuen Universität ("Schurman-Bau").
Zu der Tagung, die außerhalb des üblichen Zwei-Jahres-Rhythmus veranstaltet wurde, waren trotz der schwierigen Verhältnisse über 300 der damals rund 700 DGG-Mitglieder erschienen. Der ungewöhnlich kurzfristige Termin war im Jahr zuvor bei der Innsbrucker Tagung festgelegt worden, um einen zeitlichen Abstand zur Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Naturforscher und Ärzte herzustellen. Begründet wurde dies damit, dass bei einer Koinzidenz beider Kongresse im selben Jahr "der Kongress der Gynäkologen-Gesellschaft fast sämtliches wissenschaftliches Material an sich reißt, so daß für die Gynäkologen-Sektion der Naturforscher-Tag[ung] zumeist nur ein sehr dürftiger Stoff übrig bleibt."
Matthias David, Wolfgang Frobenius
Literatur
1. Ullrich, Volker. 1923 als Schlüsseljahr für 1933? APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de. Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE (aufgerufen am 30.7.2023)
2. Hawikcks, Heike: Funktion und Nutzung der Alten Aula im Wandel der Zeit. In: Heike Hawicks/Ingo Runde. Die Alte Aula der Universität Heidelberg. https://heiup.uni-heidelberg.de/reader/index/122/122-69-76627-2-10-20170125.xml DOI: 10.17885/heiup.122.149


Unkonventionell,
informativ und amüsant
Unkonventionell konzipiert, in weiten Teilen mit sehr privaten Einsichten angereichert und nicht zuletzt deshalb sowohl historisch interessant als auch amüsant zu lesen: So präsentiert sich die Autobiografie von Wilhelm Alexander Freund (1833-1917). Das abgebildete Exemplar hat der Pionier der operativen gynäkologischen Onkologie und Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) nur wenige Monate vor seinem Tod einem „lieben Collegen“ gewidmet, über dessen Person bisher leider nichts Genaueres in Erfahrung gebracht werden konnte. Freund war der erste Jude, der in Deutschland auf einen gynäkologischen Lehrstuhl berufen wurde.
Neben seinen wissenschaftlichen Arbeiten wie etwa zur ersten „standardisierbaren“ abdominalen Hysterektomie reflektiert Freund in seinen Erinnerungen den „psychologischen Vorgang beim wissenschaftlichen Schaffen“, fragt nach dem „Quell der Befähigung“ und bespricht "fördernde" sowie "hemmende" Einflüsse. Dabei betont er die Bedeutung einer guten naturwissenschaftlichen Vorbildung. Das Humanistische Gymnasium kommt dabei nicht gut weg. Speziell von der eigenen Schule sei er „mit wahrem Groll im Herzen“ geschieden, schrieb er („mehrere altersschwache grämliche Lehrer; Bevorzugung der Söhne höherer Stände“). Sich selbst sah er bei seiner Emeritierung in Straßburg 1901 als "heiteren, mir seinem Lose zufriedenen, glücklichen Mann".
Freund geht in seiner Biografie auch auf die Diskriminierungen ein, der sich die Juden schon im auslaufenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ausgesetzt sahen und die auch die eigene Karriere immer wieder behinderten. Ratschlägen, zu konvertieren, folgte er nicht. In der standesamtlichen Todesanzeige vom 24.12.1917 heißt es zur Religionszugehörigkeit: "dissident". Dass sein Sohn Richard Heinrich (geb. 1872), wie er selbst Professor der Gynäkologie, trotz seiner Konversion zur evangelischen Kirche am 21. September 1942 in Berlin von den Nazis in den Selbstmord getrieben wurde, musste er nicht mehr erleben.
Wolfgang Frobenius
Literatur
Ebert, Andreas D. Biografischer Exkurs: Wilhelm Alexander Freund. In: Jüdische Hochschullehrer an preußischen Universitäten (1870-1924). Eine quantitative Untersuchung mit biografischen Skizzen. Mabuse: Frankfurt a. Main 2008, 107-118.
Dross, Fritz/Frobenius, Wolfgang/Thum, Andreas. "Wir können ihr Geschick nicht wenden". Die jüdischen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie im Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch. Hentrich & Hentrich: Berlin/Leipzig 2020, 82-83.

Vor 100 Jahren
Das Jahr 1923 war ein besonderes Krisenjahr in der deutschen Geschichte mit verheerenden Auswirkungen für das ganze weitere Jahrhundert. Die Krisenspirale begann sich im Januar zu drehen, nachdem französische und belgische Truppen zur Durchsetzung der im Versailler Vertrag vereinbarten Reparationszahlungen das Ruhrgebiet besetzt hatten. Der kurz darauf von der Reichsregierung ausgerufene passive Widerstand der Bevölkerung im "industriellen Herz" Deutschlands sowie dessen im Februar folgende zoll- und wirtschaftspolitische Abtrennung vom Deutschen Reich gaben den letzten Anstoß für eine dramatische Talfahrt der Wirtschaft. Aus der herrschenden Inflation wurde die Hyperinflation; im Oktober 1923 lag der Dollarkurs bei 4,2 Billiarden Mark. Geld büßte damit seine Funktion als Zahlungsmittel nahezu ein (Abb. 1).
Verzweiflung und Verbitterung der notleidenden Bevölkerung waren groß. Die politische und wirtschaftliche Krise im Reich ging mit einer Gesundheitskrise einher. 50% aller Kinder waren im Februar 1923 unterernährt. Die schlechte Ernährungs- und Gesamtlebenslage wirkte sich sehr negativ auf die Kindersterblichkeit aus. Im besetzten Ruhrgebiet war die Situation besonders schlimm, aber auch die Lageeinschätzung des damaligen Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes Franz Bumm für das ganze Reich, vorgetragen auf einer Reichstagssitzung am 20. 2. 1923, zeigte sich pessimistisch (siehe Abb. 2).
Diese verheerenden Folgen des Ersten Weltkriegs ließen die seinerzeitige Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie (DGG) lange zweifeln, ob ihr für Mitte Mai 1923 geplanter Kongress in Heidelberg realisierbar sein würde. Als er schließlich eröffnet werden konnte, nutzte der damalige Präsident Carl Menge seine Eröffnungsansprache zu einem scharfen Protest gegen die Ausweisung von Ärzten aus dem besetzten Gebiet. "Auch Mitglieder unserer Gesellschaft sind [...] Opfer geworden. Man hat sie aus fadenscheinigen Gründen ihrer Existenzmöglichkeit, vor allem aber einen Teil der friedlichen Bevölkerung ihrer vertrauten Berater in gesundheitlicher Not beraubt", erklärte er.
Matthias David
Literatur
Menge C. Eröffnungsansprache. Arch Gynäk 1923; 120: S. XXXIV. "Volksbildung und Verelendung". Vorwärts, 21.2.1923, Morgenausgabe B, S. 4


Gräfenberg-Ring
Übliches T-förmiges IUD und Gräfenberg-Ring im Größenvergleich. Der intrauterin gelegene Ring war ein Zufalls(be)fund bei einer hochaltrigen Patientin.
Ernst Gräfenberg (1881 – 1957) hatte solche, später nach ihm benannten Ringe zur Schwangerschaftsverhütung in den 1920er Jahren während seiner Zeit als niedergelassener Gynäkologe in Berlin entwickelt. Die meisten Gräfenberg-Ringe bestanden aus sog. technischem Silber, das einen relativ hohen Kupferanteil aufwies, sodass Ernst Gräfenberg unbewusst auch der Erfinder der ersten Kupferspirale war.
Matthias David
Literatur
Baldauf, R. Tönnes, S. Simon, M. David: A Report on the Hysteroscopic Removal of a Gräfenberg Ring After Almost Fifty Years in Utero. In: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 74 (2014) 1023–1025. doi: 10.1055/s-0034-1383130

Röntgen-Hände
Testhand nach Dr. Schilling (Anfang 20. Jahrhundert) aus der Erlanger Frauenklinik, re. im Original, li. in der Durchleuchtung mit einem modernen Somatotom. In der Pionierzeit der gynäkologischen Radiologie benutzte das Personal in Unkenntnis der Gefahren die eigenen Hände, um vor einer Therapie mit Röntgenstrahlen die damals sehr schwankende Qualität der Strahlung („Härte“) im Bild zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Viele erlitten schwere Gesundheitsschäden, manche starben nach jahrelangem Siechtum an metastasierten Röntgenkarzinomen.
Theodor Rudolf Schilling (1875-1921), in Erlangen promovierter Arzt aus Nürnberg, hatte 1905 die Idee, eine Skeletthand in einen mit Wachs ausgegossenen Lederhandschuh zu stecken und auf einen mit einem Bleimantel armierten Griff zu montieren, um die Hände des Personals zu schützen. Wenig später bot die Industrie die „Testhand nach Dr. Schilling“ als „Instrument zur Bestimmung der [Röntgen] Röhrenhärte“ an. Das gezeigte Exemplar ist in die Medizinische Sammlung der Universität übergegangen und von dort als Dauerleihgabe an das Erlanger Siemens Healthineers MedMuseum, wo Sie es in der Ausstellung besichtigen können.
Wolfgang Frobenius/Fritz Dross
Literatur
Dross F, Frobenius W: Röntgenhände. In: Leven KH, Plöger A (Hg.): 200 Jahre Universitätsklinikum Erlangen. 1815-2015. Böhlau, Köln u. a. 2016, S. 201-204.

Babys aus dem Eis
Mit diesem ausgeklügelten System, bestehend aus leicht beschaffbaren Komponenten, führten WissenschaftlerInnen der Erlanger Frauenklinik Ende der 1970er Jahre Tierversuche zur Kryokonservierung von Embryonen durch. Benutzt wurde ein Styroporbehälter mit flüssigem Stickstoff, ein von einem Scheibenwischermotor angetriebener Wagenheber sowie ein Temperaturaufzeichnungsgerät (links) auf der Basis eines modifizierten Kardiotokografen (CTG). Der von einem Scheibenwischermotor angetriebene Wagenheber hob den Stickstoffbehälter langsam an. Dadurch tauchten die Gefäße mit den Embryonen in die Dampfphase des Stickstoffs ein und wurden in dessen Temperaturkontinuum bis zum Spiegel der Flüssigkeit von Raumtemperatur auf minus 196 Grad gekühlt. Diese Versuche mündeten schließlich 1986 in die erste Geburt eines „Kryobabys“ im deutschsprachigen Raum.
Wolfgang Frobenius/Fritz Dross
Literatur
Trotnow S, Hünlich T, Kniewald T: Successful cryopreservaration and transplantation of mouse embryos. Arch Androl Suppl 1980: A146
Siebzehrübl E, Trotnow S, Weigel M, Kniewald T, Habermann PG, Kreuzer E, Hünlich T. Pregnancy after in vitro fertilization, cryopreservation, and embryo transfer. J In Vitro Fert Embryo Transf. 1986 Aug;3(4):261-3. doi: 10.1007/BF01132817. PMID: 3093616.
Ruisinger, MM: In-vitro-fertilisation. In: Leven K-H et.al. (Hg.): 200 Jahre Universitätsklinikum Erlangen 1815-2015. Köln 2016: 406

Glückwünsche
der Deutschen Gesellschaft für
Gynäkologie (DGG) für Virchow
2021 jährte sich Rudolf Virchows (1821-1902) Geburtstag zum 200. Male. Dies war uns Anlass genug, darauf hinzuweisen, dass Virchow auch für die Begründung und den Ausbau der sog. Gynäkopathologie eine entscheidende Rolle spielte. Die abgebildete Glückwunschadresse legt davon Zeugnis ab.
Der junge Virchow wurde in seinen ersten Berliner Jahren von der Mitgliedschaft in der "Berliner Gesellschaft für Geburtshülfe" geprägt, deren Gründer Carl Wilhelm Mayer (1795-1868) sein Schwiegervater wurde. Er befruchtete seinerseits mit seinen Vorträgen aber auch das Leben dieser wissenschaftlichen Gesellschaft. Seine berühmten Vorlesungen über „Cellularpathologie“, 1858 veröffentlicht, führten zu einem Paradigmenwechsel in der Medizin und begründeten Virchows Weltruhm.
Daher heißt es nicht zu Unrecht in der von Max Hofmeier (1854-1927), dem damaligen Vorsitzenden der seinerzeitigen DGG, unterzeichneten, eindrucksvoll mit Jugendstilornamenten verzierten Glückwunschadresse zum 80. Geburtstag Virchows: „Seit dem Beginn Ihrer wissenschaftlichen Thätigkeit haben Sie direkt und indirekt, wie fast allen Zweigen der naturwissenschaftlicher Erkenntnis, auch unserer speziellen Wissenschaft so weitgehende Förderung geschaffen und so reiche Anregungen gegeben, dass auch in ihren Annalen der Name „Virchow“ für alle Zeiten mit unvergänglichen Lettern eingezeichnet ist…“.

Hofmeier war von 1900 bis 1923 Direktor der Universitäts-Frauenklinik in Würzburg. Dies erklärt, dass das Schriftstück von der „Königl. Univers. Druckerei von M. Stürtz in Würzburg“ angefertigt wurde, wie man in sehr kleine Buchstaben am unteren Rand des Dokumentes lesen kann. Insgesamt ist das Dokument inhaltlich und von der Aufmachung her ein eindrucksvolles Dokument dafür, dass die große interdisziplinäre Bedeutung Virchows schon zu seinen Lebzeiten anerkannt wurde. Matthias David
(Aufbewahrungsort: Archiv der Humboldt-Universität – Signatur HU UA, Nachlass (NL) Virchow, Nr. 058)
Ehrenplakette
der Japaner für Helmut Kraatz
Durch eine Schenkung - die näheren Umstände sind unklar - gelangte dieses Objekt aus dem Nachlass des DGGG-Ehrenmitglieds Prof. Dr. Helmut Kraatz (1902-1983) in die Sammlung der Jenaer Universitäts-Frauenklinik. Die wahrscheinlich aus Bronze bestehende Ehrenplakette hat einen Durchmesser von 10,5 cm und ein Gewicht von 648 g. Das gegossene Relief mit dem Motiv einer stillenden Mutter befindet sich auf einer 8 mm hohen Platte. Das Hauptmotiv wird kreisförmig vom ebenfalls erhabenen Schriftzug "The Japanese Obstetrical & Gynecological Society" umrahmt. Auf der Rückseite der Plakette befindet sich eine Gravur: "Presented to Prof. Dr. H. Kraatz in Appreciation for the Special Speek made before the 9th Annual Meeting, Sapporo, June 26-28. 1957".
Helmut Kraatz, Schüler, leitender Oberarzt und schließlich Nachfolger von Walter Stoeckel (1871-1961), leitete von 1951 bis 1970 die (Ost-)Berliner Universitäts-Frauenklinik in der Tucholskystraße und galt seinerzeit als einer der wichtigsten und einflussreichsten Gynäkologen der DDR. Neben zahlreichen Fachpublikationen und einem Band mit Reden hat Kraatz, wie sein Vorbild Stoeckel, eine Autobiographie hinterlassen. Sie trägt den Titel "Zwischen Klinik und Hörsaal. Ein Frauenarzt sieht sich in seiner Zeit" (1. Auflage 1977).

In dem Buch findet sich unter "Biographische Daten" mit indirektem Bezug zu dem Vortrag in Sapporo der Vermerk "1957 - Vortragsreisen in die UdSSR und nach Ostasien (Türkei, Indien, Thailand, Japan)". Im Kapitel "Neubeginn und Wandel" wird ein Tee-Empfang durch einen Shinto-Priester im japanischen Nara beschrieben. Dies dürfte für den Leser in der damaligen DDR sehr exotisch gewirkt haben. Es zeigte gleichzeitig das besondere Privileg, das Kraatz genoss - die Freiheit, in Länder außerhalb des Warschauer Paktes reisen zu dürfen.
Matthias David/Ekkehard Schleußner
Ein Klassiker
Lehrbuch von Carl Gustav Carus
1820 erschien bei Gerhard Fleischer in Leipzig Carus‘ zweibändiges „Lehrbuch der Gynäkologie, oder systematische Darstellung der Lehren von Erkenntniß und Behandlung eigenthümlicher gesunder und krankhafter Zustände, sowohl der nicht schwangern, schwangern und gebärenden Frauen, als der Wöchnerinnen und neugebornen Kinder. Zur Grundlage akademischer Vorlesungen, und zum Gebrauche für praktische Aerzte, Wundärzte und Geburtshelfer“. Das Buch – wohl die erste umfassende Darstellung unseres Fachgebietes in deutscher Sprache – war Carus‘ großer Wurf auf dem Gebiet der Medizin, erlebte drei weitere Auflagen (im Bild die 2. Aufl. 1828), wurde mehrfach nachgedruckt und machte seinen Autor weithin bekannt. Es hatte über 100 Jahre Bestand und wurde noch in den 1950er Jahren im „Seitz-Amreich“ zitiert.
Carl Gustav Carus (geboren 1789 in Leipzig, gestorben 1869 in Dresden) war eine zentrale Figur des geistigen und kulturellen Lebens im „Deutschen Florenz“ (Herder) in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Suchte man nach einer passenden Zuschreibung für ihn wäre es wohl „Tausendsassa“: Studium der Naturwissenschaften und Medizin, mit 25 Professor an der eben gegründeten Medizinisch-Chirurgischen Akademie in Dresden, später Leibarzt – und Freund – des sächsischen Kronprinzen und späteren Königs Johann, Landschaftsmaler, Schriftsteller, Illustrator seiner naturwissenschaftlichen Publikationen. Seine malerische und zeichnerische Begabung wird mit der seines Freundes Caspar David Friedrich verglichen – die Bilder hängen in vielen Museen, und seine naturphilosophischen Ansichten mit denen Goethes. Carus war vielleicht der wichtigste Goetheanist – und das Genie aus Weimar neben C. D. Friedrich und Alexander v. Humboldt wohl die zentrale Begegnung seines Lebens.
Uwe Andreas Ulrich
Abb.: Lehrbuch der Gynäkologie – hier Band I der 2. Aufl. von 1828 – von Carl Gustav Carus.

Gravidarium für Laien
aus den 1930er Jahren
Da die Berechnung des voraussichtlichen Geburtstermins mit Hilfe der von Naegele 1812 angegebenen „Formel“ relativ umständlich ist, wurden schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts neben entsprechenden Tabellen in geburtshilflichen Lehrbüchern auch handliche Rundscheiben, sog. Gravidarien, aus Papier oder Pappe entwickelt. Diese bestanden aus mindestens zwei beweglichen Scheiben, auf denen Tage, Wochen und Monate eines Kalenderjahres aufgedruckt waren. Oft waren auf den Scheiben auch wichtige Informationen für den Verlauf der Schwangerschaft oder mögliche ärztliche Maßnahmen zu finden. Dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts solche kreisförmigen Schwangerschaftskalender auch Bestandteil von Hebammenlehrbüchern waren, trug sicher zur weiteren Verbreitung der „Rechenscheiben“ auch in Laienkreisen bei.
Das hier präsentierte Gravidarium ist eine der Beilagen zu dem Kompendium „Wissen und Können. Hochschule des praktischen Lebens“ (1933), das in umfassender Form medizinisches und pädagogisches Wissen für Laien präsentiert.
Das Gravidarium (Durchmesser 18,5 cm) besteht auf der Vorderseite (Abb. oben) zwei konzentrischen weißen Pappscheiben, die in schwarzer und dunkelblauer Schrift bedruckt sind. Die äußere Scheibe zeigt die 12 Sternzeichen sowie die Monate und Tage eines Jahres an, die kleinere den Beginn der Periodenblutung, die empfängnisfreie und die Empfängniszeit. Eine dritte Ebene bilden drei Zeiger: Einer zum Einstellen der letzten Regel, ein zweiter im Winkel von 130° zum ersten zur Bestimmung des Zeitpunkts erster Kindsbewegungen und ein dritter, in einem Winkel von 140° zum zweiten, für den voraussichtlichen Tag der Geburt ergänzt durch einen Teilhalbkreis, der die „mögliche Geburtszeit“ (+/- 50 Tage um den errechneten Termin) anzeigt. Auf der Rückseite der Scheibe (Abb. unten) wird die Handhabung des Gravidariums in wenigen Sätzen erklärt.
Matthias David
Literatur
David M, Ebert AD Schwangerschaftsdosen, Kalendertische, Geburts-Tafeln und Volvellen – Anmerkungen zur Geschichte des Gravidariums. Geburtsh Frauenheilk 2022; 82: 265-268.
Wirtschaftliche Vereinigung für neuzeitliche Lebenskunde und rationelle Haushaltführung. Wissen und Können. Hochschule des praktischen Lebens. Hutter, Wien 1933 (Beilage)
Quellenangabe
Das hier präsentierte Objekt stammt aus der Sammlung von M. David (Fotos: M. David).


Ein Praxisschild und seine Geschichte
Der stetige Rückgang der Hausgeburtshilfe zugunsten von Klinikentbindungen ließ in den 1970er Jahren Praxisschilder mit dem Hinweis „praktischer Arzt und Geburtshelfer“ aus dem öffentlichen Raum verschwinden. Zunehmend verblasst damit die Erinnerung an die bedeutende Rolle, die „Praktiker“ im Zusammenhang mit der Professionalisierung der Geburtshilfe in Deutschland gespielt haben, seitdem 1737/38 in Straßburg erstmals Medizinstudenten entsprechend ausgebildet worden waren und 1852 in Preußen mit dem „praktischen Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer“ der staatlich geprüfte ärztliche Einheitsstand geschaffen wurde.
Viele der praktischen Ärzte waren Juden im Sinne der verbrecherischen nationalsozialistischen Rassenpolitik und wurden infolgedessen im „Dritten Reich“ verfolgt, entrechtet, ausgeplündert, zur Emigration gezwungen oder ermordet. Einer der wenigen, die durch glückliche Umstände den NS-Terror in ihrem Heimatland überlebten, war der Würzburger Dr. med. Hans Ikenberg (1900-1975). Gerettet haben ihn wohl vor allem seine Ehe mit der stets loyalen „Arierin“ Walburga (Wally) Krämer und der Umstand, dass seine Tätigkeit als „Krankenbehandler“ für Juden nach Entzug der Approbation 1938 lange unverzichtbar erschien. In den letzten Kriegsmonaten, als auch die zunächst nicht deportierten Würzburger Juden in das KZ Theresienstadt verschleppt wurden, entkam er dem gleichen Schicksal vermutlich nur durch die Vernichtung polizeilicher Unterlagen bei den alliierten Bombenangriffen auf Nürnberg und Würzburg.
Unmittelbar nach Kriegsende nahm Ikenberg als einer der ersten Ärzte in Würzburg seine Praxistätigkeit in einer Mietwohnung wieder auf. Sein Haus war zerstört, seine Gesundheit durch eine vorübergehende KZ-Haft in Buchenwald 1938 und das folgende permanente Menetekel erneuter Verhaftung und physischer Vernichtung angegriffen. Dennoch blieb er, wie die lokale Presse anlässlich runder Geburtstage rühmte, als „hochgeschätzte[r] Arzt und Mensch“ bis an sein Lebensende tätig – nicht ganz freiwillig, wie sein Enkel erinnert: „[…] da er, von den Nazis aus der Ärzteversorgung ausgeschlossen, sich weigerte, hier hohe Nachzahlungen zu leisten […].“
Wolfgang Frobenius
Literatur:
Damskis, Linda Lucia. Zerrissene Biografien. Jüdische Ärzte zwischen nationalsozialistischer Verfolgung, Emigration und Wiedergutmachung. München 2009, S. 122-135.

Wissensaustausch im Kalten Krieg
Auch wenn Reisen und Kommunikation über den eisernen Vorhang hinweg mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden waren, fand ein reger Austausch zwischen Forschern/-innen auf beiden Seiten statt. Für die Frauenheilkunde bildeten dabei "The Baltic Conferences on Obstetrics and Gynecology", die von 1986 bis 2001 acht Mal in Ostseestaaten stattfanden, ein zentrales Forum. Stig Kullander (Malmö) und Kurt Semm (Kiel) initiierten 1986 die erste dieser Konferenzen an der Wilhelm-Pieck-Universität in Rostock. Wie auch die Veranstaltungen der folgenden Jahre wurde dieses Treffen maßgeblich von westlichen Pharmafirmen finanziert. Die Konferenzen waren durchaus erfolgreich darin, ein grenzüberschreitendes Forschungsnetzwerk in Nord- und Osteuropa aufzubauen. Dies zeigt sich an deutlich wachsenden Teilnehmerzahlen im Laufe der Jahre. Bereits 1989 umfasste das Programm der damals in Gdansk stattfindenden Konferenz über 60 Vorträge von mehr als 200 Wissenschaftlern/-innen aus verschiedenen Ostseestaaten.
Teilnehmer dieser Konferenzen berichten von einem lebhaften Austausch auch über den Rahmen der Treffen hinaus. Es entstanden gemeinsame Publikationen, und auch zum Austausch von Material und Gerätschaften wurden die Konferenzen genutzt. So übergab die schwedische Delegation 1989 ein Ultraschallgerät an polnischen Kollegen. Auch wenn die "Baltic Conferences" erfolgreich darin waren, ein nordosteuropäisches Netzwerk unter Gynäkologen/-innen aufzubauen, sahen sich die Teilnehmer/-innen durchaus mit Schwierigkeiten konfrontiert: Insbesondere Wissenschaftler/-innen aus dem Ostblock kämpften mit bürokratischen Hürden. Nicht immer wurden Reisen genehmigt. Mit der Liberalisierung des Reiseverkehrs in den 1990er Jahren gewannen internationale Konferenzen an Attraktivität.
Nach 2001 wurde das Format der „Baltic Conferences on Obstetrics and Gynecology“ nicht fortgeführt. Für die Zeit ihres Bestehens ist jedoch fraglos, dass diese Zusammenkünfte eine wichtige Plattform für den Austausch zwischen Ost und West sowie ein Motor der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit waren.
Nils Hansson
Literatur
Hansson, N. (2022), Opportunities and challenges for scientific exchange in the Baltic Sea region: Lessons from the Baltic conferences on obstetrics and gynecology (1987–2001). Acta Obstet Gynecol Scand, 101: 844-845. https://doi.org/10.1111/aogs.14383 (open access).
